Kultur und Pflege

Ab September 1942, als der letzte Deportationstransport nach Theresienstadt Kassel verließ, galt die Stadt als „judenrein“ – die Jüdische Gemeinde war ausgelöscht.
Neben dem ewigen Ruherecht gelten für die Toten und die Bestattung weitere Grundsätze:
- Ehepartner, Mann und Frau, werden nebeneinander beigesetzt. Ansonsten richtet sich die Reihenfolge nach dem Sterbedatum. Kinder und Alleinstehende haben eine gesonderte Reihung. Kohanim (Nachfahren der Priester aus dem Geschlecht Aarons) und Leviten (dienende Stammesangehörige im Tempel) werden meist in einer Ehrenreihe nahe dem Friedhofseingang bestattet. Auf ihren Grabsteinen finden sich symbolische Darstellungen, etwa segnende Hände bei Kohanim oder Kanne und Schale bei Leviten.
- Gräber sind mit der Kopflage so ausgerichtet, dass das Gesicht bei der Auferstehung gen Jerusalem zeigt.
- Die Einbettung erfolgt in einer einfachen Holzkiste – in Israel oft nur in Leinentücher gehüllt. Denn im Tode sind alle gleich. Häufig wird den Verstorbenen ein Säckchen mit Erde aus Erez Israel unter den Kopf gelegt.
- Noch während der Trauerfeier und vor dem Kaddisch-Gebet wird das Grab durch die männlichen Angehörigen oder die Beerdigungsbruderschaft geschlossen – der Verstorbene wird nicht der offenen Erde überlassen.
- Grabsteine sind meist gleich groß und werden frühestens zum ersten Jahrzeit gesetzt. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden durch Angleichung an christliche Friedhofskultur auch Familiengrabstätten und aufwendigere Grabmale.
- In der 30-tägigen Trauerzeit ist es den Angehörigen nicht gestattet, das Grab zu besuchen. Wer später das Grab besucht, hinterlässt ein Steinchen – ein Zeichen des Gedenkens.
- Eine klassische Grabbepflanzung ist auf jüdischen Friedhöfen unüblich. Stattdessen wachsen Efeu oder Bodendecker auf den Gräbern oder sie sind mit Kies bestreut. Manche Gräber sind durch Grabplatten abgedeckt oder sarkophagähnlich gestaltet – das variiert je nach Epoche, Kulturkreis und Gemeindetradition.
Beim Gang über den Bettenhäuser Friedhof kann ein aufmerksamer Besucher auch einen Gang durch die Geschichte und Kultur des jüdischen Lebens machen. Auf dem ältesten Teil aus dem 17. und 18. Jahrhundert finden sich ausschließlich Grabplatten mit hebräischen Inschriften – sie enthalten neben Namen und Daten auch Angaben zu Lebenswandel und Aufgaben der Verstorbenen.
Die Grabplatten auf dem ältesten Teil des Friedhofs sind zum Teil wahre Meisterwerke der Steinmetzkunst. Die Buchstaben sind in den Sandstein eingetieft oder erhaben gestaltet, mit Symbolik und Ornamentik versehen. Oft waren es christliche Steinmetze, denen der hebräische Text vorgegeben werden musste – entsprechend finden sich auch Fehler und Verdrehungen. In diesem Bereich liegt eine Reihe von Ehrengräbern.
Im etwas jüngeren Teil des Friedhofs, etwa ab der Zeit Jeromes und der beginnenden Emanzipation der Juden, findet man sowohl liegende Grabplatten als auch aufrechte Grabmale. Auffällig ist, dass auf vielen Platten der Name zusätzlich in lateinischen Buchstaben ergänzt wurde. Grabmale zeigen oft hebräische Inschriften auf der Vorderseite und deutsche auf der Rückseite. Die verwendeten Materialien sind weiterhin Sandstein, die Formate ähneln sich.
Im nächsten Abschnitt des Friedhofs verändern sich Form und Gestaltung: abgebrochene Säulen symbolisieren frühes Ableben, Obelisken tragen mehrere Namen einer Familie, monumentale Grabmale sind mit urnenartigen Aufsätzen oder schmiedeeisernen Umfassungen versehen. Auch das Material ändert sich: farbige und schwarze Granite, polierte Flächen, eingelassene Tafeln und vergoldete Inschriften treten an die Stelle des traditionellen Sandsteins.
Mit dieser gestalterischen Vielfalt nimmt der Gebrauch hebräischer Schrift ab – meist bleiben nur Einleitung und Segensformel als Abkürzungen erhalten. Fromme Familien jedoch setzen weiterhin zweisprachige Inschriften.
Auch die Symbolik wandelt sich: Während früher ausschließlich traditionelle Zeichen wie Priesterhände, Levitenkannen, Schofar oder Beschneidungsinstrumente zu sehen waren, tritt ab dem späten 19. Jahrhundert zunehmend der Davidsstern hinzu. Es kommen zudem Namenssymbole (Löwe, Hirsch, Schild) und säkulare Motive (Äskulapstab, Malerpalette, gebrochene Blume, Blumenkorb) hinzu.
Diese Veränderungen spiegeln die zunehmende Säkularisierung der jüdischen Bevölkerung wider – sowie den Verlust der Hebräischen Sprache als Alltagssprache. Viele Nachkommen konnten die Gräber ihrer Vorfahren nicht mehr identifizieren und ließen kleine Porzellantafeln mit den deutschen Namen auf den alten hebräischen Grabplatten anbringen.
Ein Ehrenmal für die jüdischen Gefallenen des Ersten Weltkriegs inmitten des Friedhofs [Abteilung 19] – geschaffen von Karl Hermann Sichel – ist Ausdruck des damaligen Zeitgeists: jüdische Bürger fühlten sich als Teil des deutschen Volkes.
Auf jüngeren Gräbern finden sich nachträgliche Tafeln mit den Namen deportierter und ermordeter Familienmitglieder – eine stille Form der Erinnerung und Würdigung.
Auch eine neue Praxis entstand: Grabgestaltung mit Blumenbepflanzung – eine Annäherung an christliche Friedhofstraditionen. Die Jüdische Gemeinde Kassel sah sich 1932 veranlasst, eine neue Friedhofsordnung zu erlassen. Sie untersagte aufwändigen Blumenschmuck, prunkvolle Grabmale, Friedhofsarbeiten am Schabbat, nicht-jüdische Symbolik und das Rauchen auf dem Friedhof. Diese Regelung, so kurz vor dem Bruch jüdischer Geschichte in Deutschland, wirkt heute beinahe tragisch.
Ein Gedicht von Ada Christen (aus Auf dem alten jüdischen Friedhof zu Prag) greift diese Symbolik auf:
Blumen für die Lebenden, Steine für die Toten.
In diesem neuen Teil des Friedhofs liegen auch die ersten Opfer des Nationalsozialismus in Kassel begraben – etwa Maximilian Plaut, der 1933 an den Folgen der Misshandlungen durch die SA starb. Auch Opfer des Novemberpogroms 1938 und Deportierte nach Buchenwald fanden hier ihre letzte Ruhe. Einige Gräber blieben ohne Stein – entweder fehlte das Geld oder es blieb keine Zeit. Daneben finden sich Gräber von Überlebenden der Konzentrationslager, die kurz nach ihrer Befreiung an den Folgen der Haft starben.
In jüngster Zeit zeigt sich wieder eine Tendenz zur Vereinheitlichung von Grabformen und Gestaltung.
Esther Haß
Culture and Care
In September 1942, when the last deportation transport to Theresienstadt left Kassel, the city was declared “Judenrein” (free of Jews). The Jewish community had been wiped out.
In addition to eternal burial rights, there are further fundamental principles for the dead and their burial:
- Spouses are buried side by side. Otherwise, the order follows the date of death. Children and unmarried individuals are arranged in a separate row. Kohanim (descendants of the priestly caste of Aaron) and Levites(tribal members who served in the Temple) are usually buried in a place of honor near the cemetery entrance. Their headstones feature symbolic imagery: blessing hands for Kohanim, or jug and bowl for Levites.
- Graves are oriented so the head faces Jerusalem at resurrection.
- Burial takes place in a simple wooden coffin, while in Israel, the body is often just wrapped in linen. For in death, all are equal. A small pouch of soil from Eretz Israel is often placed beneath the deceased’s head.
- During the funeral, and before the Kaddish prayer, the grave is closed by male family members or the burial society. The deceased is not left to the open earth.
- Headstones are typically uniform in size and are erected no earlier than the first Jahrzeit (anniversary of death). From the second half of the 19th century, influenced by Christian cemetery culture, family plots and more elaborate gravestones also began to appear.
- During the 30-day mourning period, it is not permitted to visit the grave. Later, visitors often leave a small stone, a traditional sign of remembrance.
- Typical grave planting is uncommon in Jewish cemeteries. Instead, ivy or ground cover grows, or gravel is used. Some graves are covered by slabs or shaped like sarcophagi. This varies by era, cultural background, and community tradition.
A walk through the Bettenhausen cemetery is also a walk through the history and culture of Jewish life. The oldest part, dating from the 17th and 18th centuries, features only horizontal slabs with Hebrew inscriptions, including names, dates, personal virtues, and community roles of the deceased.
Some of these slabs are true masterpieces of stonemasonry. The letters are carved into or raised from the sandstone, often with rich symbolism and ornamentation. Christian stonemasons frequently had to work from supplied Hebrew texts, resulting in occasional errors or inversions. This area includes several honorary graves.
In the slightly newer section of the cemetery, from the time of Jérôme [Bonaparte] and early Jewish emancipation, both horizontal slabs and upright stones appear. Latin script begins to accompany many names. Inscriptions are often in Hebrew on the front and in German on the back. Sandstone remains the primary material, with relatively consistent formats.
In the next section, form and design evolve: broken columns symbolize early death; obelisks bear several family names; monumental graves feature urn-like tops or wrought iron enclosures. Materials shift to colored and black granite, polished surfaces, inlaid plaques, and gilded lettering, replacing traditional sandstone.
With this variety of styles, the use of Hebrew script declines. Often only introductory blessings remain as abbreviations. Pious families, however, continue to use bilingual inscriptions.
Symbolism also changes: While earlier graves featured only traditional motifs such as priestly hands, Levite jugs, shofars, or circumcision tools, from the late 19th century the Star of David appears more frequently. Symbols for names (lion, deer, shield) and secular motifs (Rod of Asclepius, painter’s palette, broken flower, basket of flowers) are also added.
These changes reflect the growing secularization of Jewish life and the fading of Hebrew as a spoken language. Many descendants could no longer identify the graves of their ancestors and had porcelain nameplates with German names affixed to the old Hebrew stones.
A memorial to Jewish soldiers who fell in World War I (created by Karl Hermann Sichel) stands at the cemetery’s center, reflecting the spirit of the time: Jewish citizens saw themselves as part of the German nation.
On more recent graves, plaques were later added to commemorate family members who were deported and murdered, a quiet form of remembrance and honor.
A new practice also emerged: grave decoration with flowers, a sign of convergence with Christian cemetery traditions. In 1932, the Jewish Community of Kassel issued a new cemetery ordinance. It prohibited elaborate floral arrangements, ostentatious monuments, work on the Sabbath, non-Jewish symbolism, and smoking on cemetery grounds. Issued just before the rupture of Jewish life in Germany, the regulation seems almost tragically symbolic today.
A poem by Ada Christen (On the Old Jewish Cemetery in Prague) captures this symbolism:
Flowers for the living, stones for the dead.
In this newer part of the cemetery lie the first victims of National Socialism in Kassel, including Maximilian Plaut, who died in 1933 from abuse by the SA. Victims of the November Pogrom of 1938 and those deported to Buchenwald were also laid to rest here. Some graves remain without a headstone due to lack of money, or time. Nearby are graves of concentration camp survivors who died shortly after liberation from the effects of imprisonment.
In recent years, there has been a renewed trend toward the uniformity of grave forms and design.
Esther Hass